BLICK INS BUCH

Moritz Böger: DIE ASCHEBRUT

Der alte Morten hatte in seinem Leben schon viele tote Menschen gesehen. Erstochen, erschlagen, erstickt, verhungert. Tote Männer, tote Frauen und tote Kinder. Doch das hier war anders. Auf verstörende Weise anders.

Fünf Männer standen im Halbkreis um die Leiche . Sie hatten schwere Klingen geschultert, Dolche steckten in ihren Gürteln. Einer hielt eine Muskete in den Händen. Die Gesichter waren im Halbdunkel nicht zu erkennen, da kaum Licht in die stickige Kammer fiel. Zwei Männer hatten sich Tücher über Mund und Nase gezogen. Es stank nach verwestem Fleisch.

Das am Boden liegende Mädchen war wohl schon zu Lebzeiten mager und dürr – fast ausgemergelt – gewesen. Im Vergleich zu den schwer gerüsteten Männern wirkte sie winzig wie eine Puppe. Sie trug nur ein zerrissenes Nachthemd, welches offenbarte, dass tiefe Wunden ihre Schultern und Arme verunstalteten. Die Haut des Mädchens glich Pergament und spannte sich über ein blasses Gesicht. Bei dem Loch in der Stirn hatte Morten den Eindruck, er könne in den Schädel hineinsehen.

Was ihn aber wirklich verstörte, war ihr Mund, denn zwischen den Zähnen klemmte ein Daumen. Nicht etwa ihr eigener, sondern ein großer, breiter Männerdaumen, an dem noch fleischige Fetzen der Handfläche hingen. Das Mädchen hatte sich anscheinend kurz vor dem Tod wie ein wildes Tier in die Hand des Angreifers verbissen.

Kjell, der Anführer der Söldner, murmelte mit fast tonloser Stimme: »Verdammt guter Schlag … Würde ich sagen, wenn hier kein Kind läge.«

Der Mann neben ihm beugte sich über die gezackte Öffnung im Schädel. Er hieß Veit und hatte als Feldscher große Erfahrung mit vielen Arten von Wunden. »Wahrscheinlich mit einem Hammer. Möglicherweise auch mit einem anderen Werkzeug«, stellte er fest.

Morten räusperte sich und deutete auf den linken Arm des Mädchens. Der deutlich jüngere Veit nahm jetzt auch die Arme näher in Augenschein: »Erst hielt ich es für Schnittverletzungen. Doch ich denke, jemand hat sie in den Unterarm gebissen, vermutlich mehrmals.«

»Scheiße«, entfuhr es den beiden Männern, die sich Tücher über die Nase gezogen hatten.

Veit blies die Backen auf. »Ich frage mich: Wo ist der Kerl ohne Daumen? Und was machte sie hier? Ein zehnjähriges Mädchen in der Baracke der Arbeiter. Die Kleine war die Tochter des Hafenmeisters, oder?«

Die Umstehenden sahen Veit ratlos an, während sich dieser erhob. Angespanntes Schweigen breitete sich aus. Morten dachte darüber nach, unter welchen Umständen ein Kind die Beißkraft eines Raubtiers entwickeln konnte. Die Frage behielt er jedoch lieber für sich.

In der Stille hörte man den Wind, der mit Macht durch jede Ritze blies und an der Holzbaracke zerrte. Regentropfen trommelten vor das einzige Fenster des Raums.

Abrupt beendete Kjell das Schweigen. Seine Kommandos gab er mit befehlsgewohnter Stimme: »Veit, Sten, Stellan, ab nach draußen. Holt Jördis und die anderen! Klärt, ob sie außer dem Mädchen irgendjemanden gefunden haben. Ich bleibe mit dem Alten noch einen Moment.« Als die drei den Raum verließen, folgten ihnen Mortens Augen mit verstohlenem Blick. Na endlich, dachte er.

Und mit geübten Fingern zog er ein silbernes Fläschchen aus einer verborgenen Tasche. Schwere Entscheidungen sollte man nie ohne Alkohol treffen, da war sich Morten sicher. Schließlich erwarteten Jördis und die anderen Söldner klare Anweisungen, kein Zögern, kein Zaudern. Unter diesen Umständen erschien ihm ein kleiner Schluck mehr als gerechtfertigt.

Jördis war die einzige Frau in der Söldnertruppe und ihre Stimmung war noch schlechter als das Dreckswetter, das Skelt an diesem Tag heimsuchte.

Es goss in Strömen und dunkle Wolken dominierten den grauen Himmel. Sie tauchten die Arbeiterbaracke, das Wohnhaus des Hafenmeisters und das angrenzende Lagerhaus in schmutziges Zwielicht. Die Bucht, an der die Söldner an Land gegangen waren, war schmal. So schmal, dass hier nur die drei Gebäude sowie ein Bootssteg Platz fanden. Die Mehrzahl ihrer Kameraden war vor dem bitterkalten Wind ins Innere des Wohnhauses geflohen, doch Jördis stand im Türrahmen und blickte zur Anlegestelle. Dort dümpelte ein Dampfschiff des Hochkönigs auf dem Wasser. Mit dem eisernen Kesselhaus, den rauchenden Schloten und den mächtigen Schaufelrädern wirkte es wie ein aufgedunsenes Untier. Plötzlich begann der Koloss zu ächzen und zu schnauben, während er Qualm aus seinen Schlothälsen pumpte. Die Schaufelräder erwachten zum Leben und der Koloss nahm Fahrt auf.

Vor diesem Schauspiel wirkten die zwei Gestalten auf dem Bootssteg fast bedeutungslos. Dennoch verzog Jördis beim Anblick der beiden Männer abfällig das Gesicht.

Linkerhand stand dort Kjell Blutzopf, der als Anführer der Söldner auch ›Rottmeister‹ genannt wurde. Das blutrote Haar, das in seiner Familie verbreitet war, klebte ihm regennass am Kopf. Jördis mochte ihn, denn er war ein guter Rottmeister – stets auf der Suche nach leicht verdientem Gold und ohne Hemmungen, sich die Finger schmutzig zu machen. Kjell war gerecht und wurde respektiert. Ein Anführer, der seinen Gefolgsleuten an vorderster Front beistand und nach dem Gefecht alle unter den Tisch saufen konnte.

Sein Verhalten in den letzten Wochen war ihr jedoch ein Dorn im Auge. Nachdem die Truppe drei gute Männer verloren hatte, musste Ersatz gefunden werden. Und da wählte er ausgerechnet zwei absolute Grünschnäbel und – als wäre das nicht schlimm genug – dieses Fossil von einem Söldner, dieses Wrack von einem Mann, das in den Sturmböen schwankend auf dem Bootssteg stand.

Morten, den die Söldner meist ›den Alten‹ nannten, hatte sich der Insel zugewandt, sodass Jördis trotz des Schmuddelwetters sein Gesicht sehen konnte. Seine knochigen Züge stachen heute besonders deutlich hervor, weil der Regen sein Resthaar weggewaschen zu haben schien. Wie die anderen Söldner trug er eine nietenbeschlagene Lederrüstung, deren Gewicht ihm bei dem nassen Wetter etwas zusetzte. Am Gürtel hing eine schmucklose Steinschlosspistole. Das Kurzschwert mit abgewetztem Knauf steckte in einer verschlissenen Lederscheide. Seine gesamte Erscheinung erweckte den Eindruck langsamen Verfalls. Morten war fast so groß wie Kjell, doch es sah aus, als drücke eine unsichtbare Last auf seine Schultern.

Jördis wusste, dass er ein Drecksack war. Sie kam, genau wie Morten, aus Zwei-Stein, der Hauptstadt des Königreichs Steinthor. Dort galt er schon fast als Legende: ein Söldner vom alten Schlag, der sich kein Stück um den Kodex scherte, ein Kämpfer ohne Moral, der sich von jedem mieten ließ, der genug zahlte. Die Spelunken der Stadt kannten ihn als exzessiven Trinker von zügellosem, wenn nicht gar bösartigem Charakter. Hinter vorgehaltener Hand wurde sogar gemunkelt, er sei ein kaltblütiger Mörder, ohne Skrupel, für eine Handvoll Münzen zu töten. Es gab Leute in Steinthor, die pissten sich ein, wenn dieser Kerl den Raum betrat.

Was sie am meisten ärgerte, war nicht einmal die Aufnahme dieses Säufers in die Truppe. Es war das Gefühl, dass der Alte zu großen Einfluss auf den Rottmeister hatte.

In der Vergangenheit hatte Kjell entweder Jördis um Rat gefragt – was selten vorgekommen war – oder seine Befehle stur durchgesetzt. Doch seit Morten Teil der achtköpfigen Söldnereinheit war, die man in Militärkreisen als ›Rotte‹ bezeichnete, hatte sich das geändert. Und Jördis fragte sich: Was brachte den ältesten Sohn des Blutzopf-Klans dazu, auf einen Trinker zu hören? Wie gelang es Morten bloß, den Rottmeister von seinem Geschwätz zu überzeugen?

Die Tatsache, dass sich das Dampfschiff auf den Rückweg zum Festland begab, empfand Jördis als Bestätigung ihrer Bedenken. Das konnte nur auf dem Mist des Alten gewachsen sein!

Hätte sie gewusst, was die Insel noch für die Söldner bereithielt, hätte sie dem Dampfschiff nicht hinterhergeschaut. Sie hätte alles getan, um die Insel an Bord des Schiffs schnellstmöglich wieder zu verlassen.

Morten fühlte sich alles andere als wohl, als er das Dampfschiff am Horizont verschwinden sah. Er versuchte, das Gefühl niederzukämpfen, ihre Mission stände unter einem schlechten Stern.

Der Rottmeister hatte das Schiff nach Zwei-Stein zurückgeschickt und eine Selbstsicherheit ausgestrahlt, die Morten nicht nachvollziehen konnte.

Was wäre, wenn sie auf Schwierigkeiten stießen?

Ohne das Dampfschiff saßen sie jetzt auf der Insel fest, egal was die Söldner erwartete. Es hatte den Alten viel Energie gekostet, Kjell zu überzeugen, dem Kapitän ihre Bitte um Verstärkung mitzugeben. Kjell hatte sich dem nur widerwillig gefügt. Und das nicht ohne Grund. Was hatten sie schließlich gefunden? Blutrote Spritzer in der Wohnstube des Hafenmeisters, vertrocknete Blutlachen im Lagerhaus und die Leiche einer Zehnjährigen in der Arbeiterbaracke. Natürlich gab das Anlass zur Sorge. Es war verdammt noch mal klar, dass hier etwas nicht stimmte. Für acht kampferprobte Söldner erwuchs daraus aber kein Grund, die Insel fluchtartig zu verlassen.

Als junger Mann hätte Morten solche Überlegungen als Ausdruck von Feigheit verspottet. Doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, auf sein Bauchgefühl zu hören. Und in Bezug auf die Insel hatte er ein ganz übles. Aber davon wusste der Rottmeister anscheinend nichts. Stattdessen befahl er zu packen, um ins Innere der Insel vorzustoßen, die man unter dem Namen Skelt in Karten des Nordens finden konnte.

Während das Marschgepäck verteilt wurde, warf Morten einen Blick auf den vor ihnen liegenden Weg, der sich vom kleinen Hafen ausgehend steil bergauf wand. Von der Insel war kaum etwas zu erkennen. Das lag nicht am Regen, der immer dichter fiel, sondern daran, dass der Großteil der Insel mehrere hundert Schritt höher lag als die Anlegestelle. Sie würden sich einige Zeit bergauf kämpfen müssen, um einen Blick auf den berüchtigten Schwefelberg zu erhaschen.

„Der verfluchte Wind“, knurrte Morten, „reißt mir jedes Wort von den Lippen“. Kjell rieb sich den Bart und fragte: „Wo bleibt dein Kampfgeist, alter Knaster?“ Morten wollte etwas erwidern, schwieg dann aber. Söldner galten oft als schweigsam und Morten war keine Ausnahme. Es brachte nichts, mit Kjell zu diskutieren. Ohnehin ahnte der Alte, unter welchem Druck Kjell als Anführer der Rotte stand. Im Laufe seines Lebens hatte er schon verflucht viele Männer in die Schlacht und manche auch in den Tod geführt.

Morten wusste: Es war eine Zeit großer Umbrüche und diese wurden mit Blut und Eisen erkauft, mit dem Leben junger Rekruten, die dem Hochkönig ungefähr so viel wert waren wie Pickel an seinen königlichen Arsch.

Und er kannte die Verantwortung, die schwer wie Blei wiegen konnte, nur zu gut. Er hatte sich damals geschworen, diese Bürde nie wieder zu tragen. Den Siegesjubel hatte er schnell vergessen. Das Röcheln und Ächzen der Männer, die unter seinem Kommando verreckt waren, verfolgte ihn jedoch bis heute.

Zusätzlich zur Bürde jedes Befehlshabers trug Kjell aber noch eine andere, eine Bürde, die Morten schwer einschätzen konnte, da sie dem Adel vorbehalten blieb. Kjell musste sich nämlich mit der Tatsache abfinden, dass jeder Misserfolg nicht nur auf seine Person, sondern auch auf seinen Familienklan zurückfiel. Das hatte Kjell auf der Seereise so oft betont, dass Morten es kaum ertragen hatte. Es war auch unnötig, denn alle Welt kannte Kjells Sippe, in dessen Auftrag sie hier waren.

Der Blutzopf-Klan zählte zu den berühmtesten Klans im Norden und zu denen, die am meisten gefürchtet wurden. Er hatte den Ruf, seine Ziele mit gnadenloser Härte – und notfalls mit der nötigen Brutalität – zu verfolgen.

Als junger Söldner hätte Morten gut in diese Sippe gepasst. Im Alter sah er die Sache anders. Für kein Geld der Welt wollte Morten jetzt in der Haut des Rottmeisters stecken, denn sollte Kjell versagen, würde seine Familie weder Geduld noch Nachsicht kennen.