Zum Thema gibt’s passend auch eine aktuelle Podcast-Folge!
Aus der Welt von Erdsee stammen insgesamt 6 Bücher sowie mehrere Kurzgeschichten. Ursula K. Le Guin begann 1964 mit ersten Texten aus dieser Welt. Spannend ist auch, dass die neueste Kurzgeschichte erst vor wenigen Jahren geschrieben wurde. Ein alternativer Versuch, das Gesamtwerk zu beschreiben, wäre zu sagen: Le Guin schrieb eine erste Trilogie rund um 1970 und schrieb eine zweite Trilogie ungefähr zwischen 1990 und 2000. Klar erkennbar ist in jeden Fall, dass es ein gigantisches Projekt war, das die Autorin ihr gesamtes Leben und schließlich bis zum Ende ihres Lebens (2018) begleitet hat.
Ich konzentriere mich hier auf den ersten Band, welcher den Titel „Ein Magier von Erdsee“ trägt. Hier beziehe mich in erster Linie auf die ersten 20 Seiten, daher folgen keine Spoiler. Inhaltlich geht es um einen Jungen, der in seinen ersten Lebensjahren Duni genannt wird. Er wächst auf einer kleinen Insel auf, die Teil eines gigantischen Archipels ist. Er ist Sohn eines Bronzeschmieds und wächst ohne Mutter auf. Der Vater wirkt lieblos und kümmert sich wenig um seinen Sohn, der ein großes magisches Talent besitzt. Gefördert wird er zu Beginn nur von seiner Tante. Als das Dorf attackiert wird, gelingt es Duni mit Hilfe von Magie, den Angriff abzuwehren. So werden die Menschen von Erdsee auf ihn aufmerksam. Der Magier Ogion taucht auf und gibt dem Jungen seinen wahren Namen: „Ged“. Dies ist der Beginn einer groß angelegten Heldenreise, welche den Protagonisten zur bekanntesten Zauberschule von Erdsee führen wird. Die wahren Namen von Menschen, Tieren und Dingen spielen im gesamten Roman immer wieder eine zentrale Rolle, da wahre Namen in dieser Welt essentiell sind, um Magie zu wirken.
Was manche Menschen stören könnte:
Auf den ersten Blick scheint es sich um eine sehr konventionelle Storyline zu handeln, die vielen Menschen bekannt vorkommen wird:
- junger Bursche
- zu Großem auserwählt
- Zauberschule
- Heldenreise
- Drachen auf dem Roman-Cover
Hier ist allerdings unbedingt zu beachten, dass Le Guin in den 60er-Jahren dieses Grundgerüst verwenden musste, um überhaupt eine Chance auf dem literarischen Markt zu haben, so beschreibt sie es im Vorwort der illustrierten Gesamtausgabe.
Das gefällt mir:
- Der Roman „Ein Magier von Erdsee“ ist unglaublich progressiv: Auch wenn der Vergleich zu „Herr der Ringe“ manchmal gezogen wird, sind es absolut unterschiedliche Schwerpunkte und Le Guin ist wesentlich moderner.
- Erdsee ist bodenständig, urwüchsig und glaubwürdig. Die Menschen dort haben einen engen Bezug zum Meer und zu den Inseln auf denen sie leben, denn Erdsee ist eine Welt unzähliger Inseln und die Bevölkerung ist durch das Meer miteinander verbunden. Erdsee als Setting ist so spannend, gerade weil man auf den vielen Inseln so viele unterschiedliche und abgeschlossene Abenteuer erleben kann, aber auch mit dem Schiff weit herumkommen kann.
- Die Menschen von Erdsee und fast alle Hauptfiguren haben braune, schwarze oder kupferfarbene Haut. Dies ist erfrischend progressiv, wurde aber damals von mehreren Buchverlagen ignoriert, wodurch häufig weiße Magier auf’s Cover kamen. Dies ärgerte Le Guin, welche damals mit Recht feststellte: „Erdsee wurde mit Bleiche gewaschen.“ In der neuesten illustrierten Ausgabe von Fischer TOR werden die Illustrationen den Büchern wieder gerecht. Dort werden die Hauptfiguren mit brauner oder schwarzer Haut dargestellt.
- Le Guin schreibt fesselnd, ergreifend und spannend, es gibt allerdings keine Kriege oder Schlachten. Es wird zwar mehrfach um Leben und Tod gekämpft, aber nicht mit Schwert und Schild, sondern auf andere Art und Weise, beispielsweise mit Hilfe des eigenen Willens.
- Die Story hat einen deutlichen Tiefgang. Ich würde sie als „weise“ bezeichnen, da mir hierfür kein besseres Wort einfällt.
- Die Geschichte ist permanent im Fluss und es passiert insgesamt sehr viel. Dem jungen Ged, dem zentralen Protagonisten, stellen sich immer wieder Probleme, aber: Es gibt keinen Sauron, keinen Darth Vader, keinen Scar wie bei König der Löwen. Die gesamte Storyline kommt ohne einen zentralen Widersacher aus. Es gibt also keinen Bösen, der im Hintergrund die Fäden zieht! Davon bin ich einfach begeistert.
- Ein zentrales Thema ist die Frage: Wie gehe ich mit sehr schwierigen oder schlimmen Situationen um, wenn ich sie ad hoc nicht verändern kann? Wie übe ich mich in Geduld? Wie werde ich ein bescheidener Mensch, der nicht alles sofort haben will? Es gibt mehrere faszinierende Charaktere, wie beispielsweise der Magier Ogion: Er ist unglaublich mächtig, aber zugleich unglaublich bescheiden!
- Le Guin hat sich fast ihr gesamtes Leben für den Feminismus eingesetzt. Dies ist in Band 1 nur zu erahnen, aber von Buch 2 bis Buch 6 wird das umso deutlicher: In „Die Gräber von Atuan“ (Buch 2) steht eine weibliche Hauptfigur im Mittelpunkt. Dies geschah bewusst erst in Buch 2, da sie dies bei Buch 1 nicht hätte realisieren können.
FAZIT:
Insgesamt hat mich Le Guins Art zu erzählen absolut begeistert. Sie ist und bleibt eine lesenswerte Autorin. Der traditionellen Heldenreise werden ganz neue Aspekte abgewonnen, wodurch ausgetretene Pfade vermieden werden. Das Archipel, welches den Kern von Erdsee bildet, wird unglaublich abwechslungsreich dargestellt. In die Storyline wird der Weg zur Selbstfindung kunstvoll eingewoben.
Die illustrierte Gesamtausgabe ist ihren Preis (58 €) definitiv wert, sowohl inhaltlich als auch mit Blick auf die perfekte Aufmachung. Alle Illustrationen sind stimmig und treffen die Atmosphäre der Romane und Kurzgeschichten. Die Gesamtausgabe enthält zudem wichtige Hinweise zu Le Guins Arbeitsweise und zum Feminismus. Müsste ich Punkte vergeben, würde ich 9 von 10 Punkten vergeben.
Weitere Argumente für diese Bewertung benennt die entsprechende Podcast-Episode!
Danke, werde ich auf jeden Fall auf meine Leseliste nehmen. Mir fällt auf, dass zumindest 4 der 5 Punkte von „Was manche Menschen stören könnte“ eine Zusammenfassung von Harry Potter sind.
Danke für dein Feedback. Das mit Harry Potter stimmt wirklich! Vieles davon sind ja mittlerweile „Tropes“. Manches trifft beispielsweise auch auf „Dune“ zu: junger Bursche, zu Großem auserwählt, Heldenreise, Sanddrachen bzw. Sandwürmer usw… 🙂
Ich bin gerade im 5. Buch. Die ersten drei Bücher habe ich als Jugendlicher verschlungen, einige Jahre später kam das vierte heraus. Mit dem konnte ich damals nichts anfangen. Als jetzt diese prächtige Gesamtausgabe erschien, habe ich der Reihe nochmal eine Chance gegeben und stelle fest, dass ich mit mit Anfang 50 das vierte Buch sogar am meisten schätze. Keines der Bücher ist effekthascherische Standardfantasy. Es geht immer um mehr, als um exotische Welten und Magie: um die Suche nach einer Identität, nach einem eigenen Weg durch das Leben, um das Akzeptieren unserer Vergänglichkeit, um alternative Lebensentwürfe jenseits von Karriere und Macht und auch um Gleichberechtigung. Es sind diese stets aktuellen Themen, die die Romane und Erzählungen zu zeitlosen Klassikern machen.
Tausend Dank für deine Rückmeldung!
Die Themen von Ursula K. Le Guin zu beschreiben als Suche nach Identität, nach einem eigenen Weg durch das Leben / Akzeptieren unserer Vergänglichkeit, alternative Lebensentwürfe jenseits von Karriere und Macht… Das ist echt eine perfekte Zusammenfassung!
Viele Grüße
Moritz